Erklärung bündnisgrüner Innen- und Rechtspolitiker_innen in den Landtagen Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt zur Nazi-Terrorzelle in Zwickau (November 2011)

Die Aufdeckung einer rechtsextremen Terrorzelle mit dem Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) in Zwickau, die offenbar für mindestens zehn Morde, Bombenanschläge und mehrere Banküberfälle quer durch die Bundesrepublik Deutschland verantwortlich ist, hat unser Land aufgeschreckt.

Die grausamen Untaten machen betroffen und unsere Gedanken gelten zuallererst den Angehörigen der Opfer, die jahrelang mit der Unterstellung leben mussten, die Morde könnten im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder Auseinandersetzungen innerhalb migrantischer Gemeinschaften stehen. Heute wissen wir, was angesichts der Taten zumindest nicht hätte ausgeschlossen werden dürfen: Es waren rassistische Vernichtungsphantasien, die die Mörder trieben.

Obwohl auch wir seit Jahren vor der rechten Szene und der NPD gewarnt haben, müssen wir uns heute fragen, ob wir alles nach unseren Möglichkeiten unternommen haben, um der Ausbreitung der extrem rassistischen Ideologie und Szene Einhalt zu gebieten.

Für aufmerksame Beobachter der extrem rechten Szene ist die Brutalität der Zwickauer Terrorzelle leider keine Überraschung. Rechtsterroristische Anschläge und Vorbereitungen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik wiederholt gegeben. Erinnert sei hier nur an das Oktoberfestattentat in München im September 1980, das 12 Menschen tötete. Heute wissen wir, dass seit 1990 mindestens 182 Menschen von Rassisten und Nazis ermordet wurden.

Für uns bündnisgrüne Landespolitiker_innen der drei Bundesländer,  in denen die Täterinnen und Täter jahrelang politisch wirken und untertauchen konnten, ergeben sich folgende Forderungen:

I. Was jetzt zu tun ist

1. Gefahrenabwehr

Die jahrelang unaufgeklärte rassistische Mord- und Anschlagsserie markiert ein schwerwiegendes Versagen der Strafverfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaften und Polizei) sowie des Inlandsgeheimdienstes „Verfassungsschutz“. Jetzt geht es darum, schleunigst zu klären, ob noch weitere Mörder und Terroristen der Zwickauer Gruppe aufzuspüren und zu verhaften sind. Auch das offenbar jahrelang unbehelligt gebliebene Umfeld von Unterstützern ist aufzuklären und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die Zwickauer, Eisenacher und frühere Waffenfunde lassen vermuten, dass es weitere Waffendepots gibt. Die Bedeutung der aufgefundenen Listen mit den Namen möglicher Anschlagsziele ist aufzuklären.

2. Öffentliche Aufarbeitung

Wir unterstützen die Forderung zur Einsetzung eines Sonderermittlers der Parlamentarischen Kontrollkommission des Bundestags. Wir begrüßen die Einsetzung des ehemaligen Bundesrichters Schäfer zur Aufhellung der Vorgänge in
Thüringen. Wir erwarten, dass die sächsische Staatsregierung nicht weiter so tut, als ob es sie nichts anginge, wenn zehn Jahre eine bundesweit mordende terroristische Gruppe in Sachsen samt Unterstützungsumfeld untertauchen konnte. Wir werden
uns mit einer Aufarbeitung, die unter dem Vorwand angeblich notwendiger Geheimhaltung nur hinter verschlossenen Türen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet nicht abfinden und dafür alle parlamentarischen Mittel, einschließlich der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen ausschöpfen. Wir sind der Überzeugung, dass nur eine lückenlose Aufklärung und Offenlegung des Handelns von Behörden verlorenes öffentliches Vertrauen wieder gewinnen kann. Mit John Dewey sind wir außerdem überzeugt, dass gegen die Mängel der Demokratie nur
eines hilft: mehr Demokratie. Aufklärung und Offenlegung von Behördenhandeln muss daher auch als eine Stärkung unserer politischen Ordnung gesehen werden.

3. Auf dem rechten Auge blind?

Wie kann es sein, dass die drei Täterinnen und Täter, deren Gefährlichkeit bekannt war, in Thüringen abtauchen konnten? Wie kann es sein, dass das Trio mehr als zehn Jahre im sächsischen Zwickau unerkannt leben konnten? Wie kann es sein, dass die Mörderbande offensichtlich jahrelang von bekannten Nazis unterstützt werden kann, ohne dass die Behörden aufmerksam werden?

Der Verdacht steht im Raum, dass verschiedene Ämter auf dem rechten Auge blind waren.

4. VS-Spitzel: Wer manipuliert hier wen?

Auch wenn sich diese Verdachtsmomente und Spekulationen nicht bestätigen sollten, stellen sich Fragen nach dem Ansatz und der Qualität der Arbeit der Verfassungsschutzbehörden. Die Vorgänge deuten an, dass VS-Spitzel die extrem rechte Szene eher vor Ermittlungen schützen und sie finanzieren, als dass staatliche
Behörden ein zutreffendes Bild von den Vorgängen erhielten. Wer manipuliert hier eigentlich wen?

5. Überprüfung der strategischen Ausrichtung der Behörden

Offensichtlich beruht das Unentdecktbleiben der Terrorgruppe auf falschen oder fehlenden Einschätzungen der zuständigen Staatsanwaltschaften, Polizeien und Verfassungsschutzämter. Daher muss deren strategische und personelle Ausrichtung
kritisch und vorbehaltslos überprüft werden. Wir haben den Eindruck, dass die ehörden die Gefahr eher von „links“ oder von „Islamisten“ erwarten als die manifeste terroristische Gefahr von Rassisten, Antisemiten und Nationalisten wahrzunehmen. Im bundesweiten Vergleich sind die Verfassungsschutzbehörden in
den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bezogen auf die Einwohnerzahl sowohl nach der Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln überdurchschnittlich ausgestattet. Trotzdem haben die Behörden offenkundig versagt.

6. Stärkung der Polizei gegenüber dem Verfassungsschutz

Jeder aufmerksame Beobachter weiß, dass die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Verfassungsschutz auch von  Konkurrenzdenken und Eifersüchteleien geprägt ist. Der Verfassungsschutz tendiert dazu, lieber die Polizei nicht zu informieren, als einen Zugang in die beobachtete Szene zu verlieren. Offensichtlich ist es zu einer verhängnisvollen Verschiebung der Machtverhältnisse zu Lasten der Polizei
gekommen. Eine notwendige Konsequenz muss die personelle und inhaltliche Stärkung der Polizeibehörden zu Lasten der Verfassungsschutzämter sein.

7. Antiterrordatei und Terrorabwehrzentrum Rechts

Wir begrüßen, dass die Innen- und Justizminister des Bundes und der Länder auf ihrer Konferenz am 18. November in Berlin die terroristische Gefahr von rechts jetzt ernst nehmen und die Arbeit der Beobachtungs- und Strafverfolgungsbehörden wirksamer koordinieren und verknüpfen wollen. Allerdings wenden wir uns gegen den reflexhaften Ruf nach Ausweitung von Datenspeicherungen, ohne zuvor geklärt zu haben, ob Behörden ihre jetzt schon bestehenden Unterrichtungspflichten verletzt
haben. Wir geben zudem zu bedenken, dass Datenspeicherung operativ gar nichts bewirkt, wenn der Wille zur Zusammenarbeit bei den Behörden nicht besteht. Verbunddateien des Bundes und der Länder werfen schwerwiegende datenschutzrechtliche Fragen auf. „Terrorabwehrzentren“, bei denen sich Polizei und Geheimdienstmitarbeiter gegenüber sitzen und Informationen austauschen, heben tendenziell die gebotene verfassungsmäßige Trennung von Polizei und Geheimdiensten auf. Auf die besondere sächsische Verfassungslage sei hingewiesen. Vor einer genauen und öffentlichen Aufklärung der Fehler und Mängel halten wir die Forderung nach neuen Dateien und Abwehrzentren für verfrüht.

8. Rechte Gewalt ernst nehmen

Rechtsextremismus allgemein und rechte Gewalt im Besonderen sind in der Vergangenheit staatlicherseits zu oft verharmlost worden. Während unabhängige Recherchen mindestens 182 Todesopfern rechter Gewalt ermittelt haben, sind davon nicht einmal 50 auch offiziell anerkannt. Opfer rechter Gewalt berichten zudem vielfach über demütigendes Verhalten seitens von Polizeibeamten oder sehr lange Zeiträume bis zum Eintreffen der Polizei sowie Defizite bei polizeilichen Ermittlungen und der juristischen Aufarbeitung der zu ihrem Nachteil begangenen Straftaten. Oft haben Betroffene den Eindruck, institutioneller Rassismus stehe einer wirksamen Aufklärung entgegen und verhindere einen angemessenen Umgang mit dem ihrer Person zugefügten Unrecht. Wir fordern eine umgehende neue Prüfung zur statistischen Einordnung aller Todesfälle, die durch unabhängige Recherchen dem Bereich rechter Gewalt zugeordnet werden, und eine stärkere Sensibilisierung von Polizei, Justiz und Verwaltung für rechtsextreme Straftaten und im Umgang mit Opfern rechter Straftaten.

9. Zivilgesellschaftliches Engagement stärken, nicht behindern

Der Wechsel zu einer schwarz-gelben Bundesregierung und einer schwarz-gelben Regierung im Freistaat Sachsen hat zu einem Paradigmenwechsel geführt. Mit der so genannten „Demokratieerklärung“ werden zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich für Demokratie und gegen Rechtsextremismus engagieren einem staatlichen Generalverdacht ausgesetzt. In der Realität wird das Engagement dieser Initiativen massiv behindert. Wir fordern die Rücknahme der „Demokratieklausel“ und die moralische und bessere finanzielle Unterstützung der zivilgesellschaftlichen und
Opferberatungsinitiativen. Dazu sind in allen drei mitteldeutschen Bundesländern Landesprogramme zur Stärkung der Demokratie notwendig. Sie sind entsprechend des Bedarfes auszustatten. Wir fordern zudem das Ende der offensivem Kriminalisierung und Überwachung (Handygate) der friedlichen Demonstranten und
Platzbesetzer des 19. Februar 2011 in Dresden.

II. Die NPD-Verbotsdiskussion ist ein Irrweg

Mit großer Sorge betrachten wir die nun einsetzenden Forderungen nach einem neuen Anlauf, einen Antrag beim Bundesverfassungsgericht zum Verbot der NPD zu stellen. Wir befürchten, dass damit die eigentliche Aufklärung des Versagens der Strafverfolgungs- und Verfassungsschutzbehörden in den Hintergrund gedrängt wird. Wir sind der Ansicht, dass die nur zu verständliche Empörung und der richtige Wille sofort zu handeln, die tatsächlichen Schwierigkeiten und Zeitabläufe eines Verbotsverfahrens, seine verfassungspolitische Bedeutung und begrenzte Wirksamkeit verkennen.

1. Die NPD ist eine verfassungsfeindliche Partei

Wir sind uns mit den Verbotsbefürwortern einig, dass die NPD die
verfassungsfeindlichen Ziele der Abschaffung der Freiheit und Gleichheit aller Menschen sowie der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes anstrebt. Wir wissen auch, dass unter den Funktionsträger der NPD verurteilte Gewalttäter und Rassisten sind und dass sich die NPD teilweise bewusst auf diesen Personenkreis
stützt. Zwar haben sich möglicherweise Unterstützer der Terrorzelle im Umfeld der NPD bewegt, daraus kann aber nach jetzigen Erkenntnissen kaum auf eine Unterstützung der Terrorzelle durch die NPD als Partei geschlossen werden.

Auch für uns ist es unerträglich, dass die NPD von staatlichen Fraktionsgeldern und Wahlkampfkostenerstattung profitiert. Wir verweisen aber darauf, dass die Wählerinnen und Wähler mit ihrer Stimmabgabe für die NPD oder mit ihrer Wahlenthaltung zu Lasten demokratischer Parteien dafür verantwortlich sind.

2. Wir lehnen die Unterdrucksetzung des Bundesverfassungsgerichts ab

Das Bundesverfassungsgericht hat 2003 das Verbotsverfahren gegen die NPD zu Recht eingestellt, weil die Bundesregierung nicht versichern wollte oder konnte, dass die der NPD vorgeworfenen verfassungsfeindlichen Äußerungen nicht von bezahlten Spitzeln des Verfassungsschutzes getroffen wurden. Eine andere Entscheidung hätte bedeutet, dass staatliche Behörden eine Partei durch Unterwanderung verbotsreif spitzeln könnten. Dies kann in einer freiheitlichen Demokratie nicht sein. Daher weisen wir die Versuche, das Bundesverfassungsgericht so unter Druck zu setzen,
dass es diesmal einem Verbot ohne Abzug der Spitzel zustimmt, mit aller Entschiedenheit zurück.

Die Innenminister des Bundes und der Länder sind offensichtlich nicht bereit, ihre V-Leute zurückzuziehen, Schon deshalb ist eine Verbotsdebatte fruchtlos. Sie verkennt im übrigen völlig die Zeitabläufe. Würden die Spitzel jetzt alle abgezogen, müsste die
NPD mindestens ein bis zwei Jahre von außen beobachtet werden, um Material zur Begründung eines Verbots sammeln zu können. Ein Antrag könnte wohl frühestens 2013 gestellt werden. Es ist zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht sorgfältig prüfen wird, so dass eine Verbotsentscheidung bis 2015 sehr früh erscheint.

3. Parteienverbote: Ein Fremdkörper in der Demokratie

Parteien wirken nach Art. 21 des Grundgesetzes an der Willensbildung des Volkes mit. Sie sind damit Instrumente des Volkes, mit dem sie Gesetze und ihre Ausführung legitimieren. Parteienverbote sind daher Eingriffe in die Rechte des Volkes und kaum mit dessen Souveränität vereinbar. Das Grundgesetz verlangt eben nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger die Werteordnung des Grundgesetzes teilen, sondern „nur“, dass sie seine Gesetze beachten. Die Meinungsfreiheit erlaubt es auch, nationalsozialistische Meinungen zu haben und zu vertreten, solange sie nicht bewusst bestimmte Maßnahmen der Naziherrschaft in einer den öffentlichen Frieden störenden Weise vertreten (Wunsiedel-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von
2009). Darauf wird sich auch die NPD berufen können.

4. Parteienverbote machen die Demokratie schwächer als sie ist

Die NPD trägt seit Jahren vor, dass die demokratischen Parteien nicht in der Lage seien, ihr inhaltlich zu widersprechen. In einem Verbotsverfahren könnte sie diese Argumentation voll ausspielen und so gestärkt werden. Obwohl die NPD leider wieder in die Landtage von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern eingezogen ist, hat sie massiv an Stimmen verloren. Es bestehen begründete Aussichten, die NPD mit dem Wahlzettel wieder aus den Parlamenten zu vertreiben, Diese demokratische Lösung ist die einzig tragfähige und erfolgversprechende, da sie die Verantwortung in die Hand des Volkes gibt und nicht mit repressiven staatlichen Scheinlösungen wie Verboten den Fehlschluss ermöglicht, die Bürgerinnen und Bürger seien nicht selbst aufgerufen und in der Pflicht, nationalsozialistische Parteien in die Bedeutungslosigkeit zu verbannen. Parteiverbote sind damit auch immer Misstrauenserklärungen an die demokratische Reife des eigenen Volkes. Sie schwächen so den eigentlichen Anker der Freiheit, das demokratische Bewusstsein des Volkes.

5. Ausweichreaktionen

Wir haben begründete Zweifel, dass ein NPD-Verbot die extrem rechte Szene dauerhaft schwächen und rassistische Hetze unterbunden würde. Wahrscheinlich wären die Schaffung einer Ersatzorganisation, Wechsel zu anderen rechten Parteien oder auch teilweise Unterwanderungsversuche in anderen nicht-rechten Parteien oder ein Abtauchen in informelle Zusammenschlüsse bzw. zellenartig organisierte Strukturen, die aufgrund ihres Charakters nicht Gegenstand von Verboten werden können, wie z. B. den „Autonomen Nationalisten“. Zudem könnten auch Einzelbewerber bei Wahlen staatliche Wahlkampfkostenerstattung erhalten.

Dirk Adams – Mitglied des Thüringischen Landtags, innenpolitischer Sprecher der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Eva Jähnigen – Mitglied des Sächsischen Landtags, innenpolitische Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Miro Jennerjahn – Mitglied des Sächsischen Landtags, demokratiepolitischer Sprecher der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Monika Lazar – Mitglied des Deutschen Bundestags, Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Johannes Lichdi – Mitglied des Sächsischen Landtags, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Astrid Rothe-Beinlich – Mitglied des Thüringischen Landtags, migrations- und flüchtlingspolitische Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, im Bundesvorstand zuständig für das Thema Rechtsextremismus

Sebastian Striegel – Mitglied des Landtags Sachsen-Anhalt, innenpolitischer Sprecher der Fraktion BÜDNIS 90/DIE GRÜNEN