Konsequenzen aus dem rechten Terror ziehen: Transparente Aufklärung vorantreiben – Demokratie stärken (2./3.3.2012)

Seit November 2011 schockieren die Erkenntnisse über den Terror des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) und über das Versagen der deutschen Verfassungsschutzbehörden die Öffentlichkeit. Die sächsischen Bündnisgrünen trauern um die Opfer der NSU-Morde. Unser Mitgefühl gehört ihren Angehörigen. Wir sind entsetzt und wütend darüber, wie rassistische Ressentiments in deutschen Behörden dazu geführt haben, dass Angehörige erleben mussten, dass den Opfern teilweise kriminelle Verbindungen zugeschrieben wurden. Die Vorstellung, dass die Angehörigen jahrelang mit dieser Beleidigung ihrer Toten leben mussten, ist unerträglich.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen kritisieren seit Jahren Tendenzen der Verharmlosung rechtsextremer Gewalt. Wir haben uns nie Illusionen über die Gewaltbereitschaft von Neonazis
gemacht, und wir haben der Arbeit des Verfassungsschutzes schon immer misstraut – doch die jetzt bekannt gewordene Dimension geplanter Mordaktionen einer Terrorzelle und des Versagens der Verfassungsschutzbehörden bestürzt auch uns. Obwohl wir seit Jahren vor der rechten Szene und der NPD gewarnt haben, müssen auch wir uns heute fragen, ob wir alles nach unseren Möglichkeiten
unternommen haben, um der Ausbreitung der neonazistischen Ideologie und Szene Einhalt zu gebieten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen werden sich dafür einsetzen und daran
mitwirken, dass aus den nun vorliegenden Erkenntnissen endlich die notwendigen Konsequenzen gezogen werden.

Schluss mit der Verharmlosung – Aufklärung vorantreiben

Es ist ein Skandal, dass die Aktivitäten der NSU-Terroristen so lange unentdeckt blieben und der Freistaat Sachsen von ihnen als Rückzug- und Ruheraum genutzt wurde. Wir wenden uns gegen Versuche, von dieser sächsischen Verantwortung abzulenken, z.B. indem die Mitglieder des NSU als „Thüringer Trio“ bezeichnet werden.

Die jahrelange Verharmlosung der rechtsextremen Gefahr in Sachsen durch die regierende CDU, die in der törichten Behauptung des ehemaligen Ministerpräsidenten Biedenkopf gipfelte, die Sachsen seien „immun“ gegen Rechtsextremismus und in Sachsen habe es weder rechte Morde noch angezündete Häuser gegeben, muss als eine der Ursachen dafür angesehen werden, dass
der NSU sich nahezu ungestört im regionalen Nazi-Milieu bewegen konnte.

Es wird aufzuklären sein, welche Verbindungen des NSU zu sächsischen Akteurinnen und Akteuren der Naziszene bestanden. Es wird auch zu klären sein, inwiefern eine bessere Beobachtung
und strafrechtliche Verfolgung rechter Straftäter in Sachsen Taten des NSU hätte verhindern können. Vor allem aber wird das Versagen der sächsischen Behörden vor dem Hintergrund ihres allgemeinen Umgangs mit der extremen Rechten zu analysieren sein. Entsprechend sollte die Arbeit eines Untersuchungsausschuss im Sächsischen Landtag nicht nur am „Fall“ des NSU orientiert sein, sondern umfassend klären, inwiefern Polizei, Justiz und Verfassungsschutz in Sachsen auf dem rechten Auge blind waren bzw. sind, um ein ähnliches Versagen in Zukunft zu verhindern. Entgegen der Behauptung des früheren Ministerpräsidenten Biedenkopf hat es in Sachsen mehr als 10 Todesopfer rechter Gewalt gegeben. Wir fordern die Prüfung aller bislang nicht als durch rechte Gewalt verursacht anerkannten Todesfälle.

NPD-Verbot als Allheilmittel ist eine Illusion

Die plumpen Versuche von Ministerpräsident Stanislaw Tillich, sich an die Spitze derjenigen zu stellen, die ein NPD-Verbot als Allheilmittel gegen Rechtsextremismus verkaufen wollen, weisen wir als ungeeigneten Versuch, sich aus der Verantwortung zu stehlen, zurück. Der Ministerpräsident verwechselt Ursache und Wirkung, wenn er meint, ein Parteiverbot würde der extremen Rechten den sprichwörtlichen „Nährboden“ entziehen. Wir sächsischen GRÜNEN stehen der Diskussion um ein NPD-Verbot weiterhin äußerst skeptisch gegenüber. Ein NPD-Verbotsverfahren darf es nur geben, wenn die Voraussetzungen dafür vorhanden sind, dabei sind insbesondere die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen.

Das Agieren von Ministerpräsident Tillich lässt einen solchen verantwortungsvollen Umgang mit einem möglichen Verbotsverfahren von Grund auf vermissen. Die Gefahr, dass unter diesen Bedingungen ein Verbotsverfahren scheitert, ist real. So würde lediglich der NPD ein weiterer Triumph verschafft werden. Wir sprechen uns aber auch dagegen aus, dass das Bundesverfassungsgericht die Versäumnisse der Politik in der Auseinandersetzung mit rassistischen und demokratiefeindlichen
Einstellungen in unserer Gesellschaft ausbaden soll. Gegen Antidemokraten hilft vor allem die Stärkung der Demokratie – Parteiverbote sind aber kein Mittel zur Stärkung der Demokratie.
Um einen Sumpf trockenzulegen, reicht es nicht, eine einzelne Sumpfblüte zu entfernen.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden auch weiterhin dafür werben, die NPD auf demokratischem Wege mit dem Wahlzettel in die Bedeutungslosigkeit zu verbannen. Bereits für die nächste Landtagswahl 2014 bestehen begründete Aussichten, dass die NPD aus dem Sächsischen Landtag gestimmt werden kann.

Demokratie stärken, Kriminalisierung von demokratischem Engagement beenden

Wir brauchen eine Stärkung der Demokratie. Es gilt, zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich gegen menschenfeindliche Einstellungen und für die demokratische Kultur engagieren, zu stärken. Wir fordern Bundes- und Staatsregierung zum wiederholten Male nachdrücklich auf, darauf zu verzichten,
von Projekten gegen Rechtsextremismus eine sogenannte „Demokratieerklärung“ und eine Gesinnungsprüfung ihrer PartnerInnen zu verlangen. Staatliches Misstrauen und der Generalverdacht gegenüber zivilgesellschaftlichem Engagement behindern die Arbeit der Projekte. So hat die Einführung der sogenannten „Demokratieerklärung“ zu erheblichen Verzögerungen in der Auszahlung von Fördermitteln geführt und so die Arbeit der Projekte und Vereine massiv beeinträchtigt.

Wir fordern die Staatsregierung und die sie tragende CDU auf, mit der Diffamierung und Kriminalisierung von Demokratinnen und Demokraten, die sich gegen Nazi-Aktivitäten engagieren, endlich
aufzuhören. Dies gilt beispielsweise für Aktive in Soziokulturellen Zentren und nichtrechten Jugendclubs. Nichtrechte Jugendliche, die sich in sächsischen Kleinstädten mit großem Mut den Hegemonialbestrebungen der örtlichen Naziszene entgegenstellen, müssen unterstützt werden statt als „Teil der Auseinandersetzung von Jugendlichen“ kriminalisiert zu werden. Wir wenden uns auch gegen die Kriminalisierung der Menschen, die den Nazis bei ihren alljährlichen Aufmärschen, wie zum Beispiel in Dresden, entgegentreten. Wir empfehlen der Sächsischen Union ihren
Extremismusbegriff zu überdenken und sich stattdessen kritisch mit denjenigen in ihren Reihen auseinanderzusetzen, die am rechten Rand fischen wollen, wie z.B. die CDU-interne „Aktion Linkstrend stoppen“.

Verfassungsschutz auf den Prüfstand stellen

Wir fordern das Ende der V-Leute-Praxis des Verfassungsschutzes auf Bundes- und Landesebene. V-Leute in rechtsextremen Strukturen sind keine Agenten des Rechtsstaates, sondern staatlich
alimentierte Nazi-Aktivisten.

Wir wollen den Verfassungsschutz im Freistaat Sachsen aber auch darüber hinaus auf den Prüfstand stellen. Bereits im Vorfeld der Verhandlungen zum Doppelhaushalt 2011/2012 haben die
GRÜNEN im Sächsischen Landtag Vorschläge zu deutlichen Einsparungen beim Landesamt für Verfassungsschutz zugunsten einer besseren Ausstattung der Polizei, der Justiz und des Landesprogramms „Weltoffenes Sachsen“ gemacht. Die Erkenntnisse über den „Nationalsozialistischen Untergrund“ und das Versagen des Verfassungsschutzes bestätigen, dass eine solche Weichenstellung richtig gewesen wäre. Wir fordern die demokratischen Fraktionen des Sächsischen Landtages auf, die GRÜNEN Vorschläge im Doppelhaushalt 2013/2014 umzusetzen, um insbesondere durch eine Stärkung der Polizei die Sicherheitslage in Sachsen real zu verbessern. Wir halten eine
Aufstockung der Fördermittel des Landesprogramms „Weltoffenes Sachsen“ auf 5 Millionen Euro jährlich für dringend erforderlich.

Kurzfristig sind darüber hinaus die parlamentarischen Kontrollrechte gegenüber dem Verfassungsschutz zu stärken.

Perspektivisch wollen wir aber bei Einsparungen beim Verfassungsschutz nicht stehenbleiben. Wir halten das Modell einer Spitzelbehörde, die – einem wissenschaftlich fragwürdigen Extremismusbegriff folgend – Linke mit Nazis gleichsetzt und deren Agieren sich weitgehend der demokratischen Kontrolle entzieht, für überlebt. Gefahrenabwehr und die Verfolgung von Straftätern müssen eindeutig die Aufgabe der Polizei sein. Das Landesamt für Verfassungsschutz soll mittelfristig zugunsten einer transparent und unabhängig von der Staatsregierung arbeitenden Einrichtung abgeschafft werden, deren Aufgaben darin bestehen sollen, antidemokratische und menschenfeindliche Tendenzen in Sachsen wissenschaftlich zu erfassen und zu analysieren und die Öffentlichkeit durch Publikationen und Bildungsangebote darüber zu informieren.

Beschlossen auf der Landesdelegiertenkonferenz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen am 2./3. März 2012 in Görlitz.