Mügeln – war da was?

Mügeln – war da was? Ja, da war was! In der Nacht vom 18. zum 19. August 2007 fand während eines Stadtfestes eine rassistisch motivierte Hetzjagd auf eine Gruppe von sieben Personen, darunter fünf indische und zwei deutsche Staatsbürger, in Mügeln statt. Mehrere der verfolgten Personen werden verletzt, fünf können sich in eine nahe gelegene Pizzeria flüchten, einer schafft es nicht und wird schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert, eine weitere verfolgte Person kann sich in der Folge vom Tatort entfernen. Vor der Pizzeria herrschen anschließend Belagerungszustände. 40 bis 50 gewaltbereite junge Männer bedrohen die Menschen in der Pizzeria, 200 weitere „Schaulustige“ stehen drumherum. Lediglich die vier zu diesem Zeitpunkt vor Ort befindlichen Polizeibeamten können unter erheblicher Gefahr für ihre eigene Gesundheit den aufgebrachten Mob daran hindern, die Pizzeria zu stürmen, bis die Bereitschaftspolizei in größerer Zahl anrückt und die hochaggressive Situation mit Reizgas und Schlagstöcken unter Kontrolle bringt.

Der Fall fand einerseits bundesweit mediale Beachtung als krasses Beispiel rassistisch und rechtsextrem motivierter Gewalt, andererseits aber dokumentiert er auch das spezifisch sächsische Problem im Umgang mit dem Thema Rassismus bzw. allgemeiner formuliert mit dem Thema gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.

Am gestrigen Dienstag verschlug es mich nach mehreren Jahren mal wieder in die im Landkreis Nordsachsen gelegene Kleinstadt Mügeln. Anlass war eine von weiterdenken – Heinrich Böll Stiftung Sachsen organisierte Veranstaltung mit dem Titel „Die Entwicklung rassistischer Hegemonien – Der Fall Mügeln“ mit der Bundestagsabgeordneten Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Dr. Britta Schellenberg vom Centrum für angewandte Politikforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Moderiert wurde die Veranstaltung von dem ehemaligen GRÜNEN Landtagsabgeordneten Johannes Lichdi.

Ausgangspunkt für die Veranstaltung war eine im Sommer 2014 von weiterdenken herausgegebene und von Dr. Schellenberg verfasste Studie über den Fall Mügeln aus dem Jahr 2007 mit dem Titel „Mügeln. Die Entwicklung rassistischer Hegemonien und die Ausbreitung der Neonazis„.

Die Studie über den Fall Mügeln

Dr. Schellenberg hat für ihre etwas über 120 Seiten lange Studie die staatsanwaltlichen Ermittlungsakten, welche die Berichte der Polizei, die Protokolle der Zeugenbefragungen etc enthalten, zu dem Eingangs geschilderten Fall ausgewertet, sowie Gespräche mit zivilgesellschaftlichen Akteuren vor Ort und in Sachsen geführt. Ebenfalls geht sie auf die mediale Berichterstattung ein und – noch entscheidender – skizziert sie die lokale Deutung der Tat sowie die Reaktion der sächsischen Landespolitik und macht deutlich, welchen Einfluss diese Deutungen letztlich auf die Ermittlungsarbeit der Polizei hatten und wie sie das Klima vor Ort beeinflusst haben.

Und die Ergebnisse der Studie haben es in sich. Grob lässt sich die Polizeiarbeit in zwei Phasen gliedern. 1. Klare Problembenennung, dass es sich um einen rassistisch motivierten Übergriff unter Beteiligung mehrerer Rechtsextremisten handelt durch die vor Ort eingesetzten Polizeibeamten und die ersten Zeugen. 2. Verwischung des rassistischen Hintergrunds der Tat im Zuge der weiteren Ermittlungsarbeiten der Partei und aufgrund des lokalen und landesweiten politischen Diskurses.

Erste Einschätzungen des Tathergangs

Die ersten Polizeiberichte über die Hetzjagd handeln eindeutig von einer rassistisch motivierten Tat, die verfolgte Gruppe wird den Tatsachen entsprechend als Opfer gekennzeichnet. In den Berichten ist desweiteren von einer hohen Zahl gewaltbereiter Rechter in der Tatnacht ebenso die Rede wie von zahlreichen rassistischen und rechtsextremen Parolen, die gerufen wurden, wie „Ausländer raus!“, „Hier regiert der nationale Widerstand“ und „Deutschland den Deutschen“.

Auch früh von der Polizei befragte Zeugen berichten von rechtsradikalen Personen, Gewalt gegen Ausländer und darüber, dass in der Tatnacht von den Angreifern weitere Angehörige der rechtsextremen Szene aus der Region per Handy herbeitelefoniert wurden.

„Der Blick in die Polizeiakten, in denen die Berichte und Protokolle der diensthabenden PolizistInnen, unmittelbaren, Zeugen, Tatverdächtigen und Geschädigten abgeheftet sind, ebenso wie Fotos von der Tanzfläche  des Festzeltes kurz vor dem später kontrovers debattierten Vorfall zeigen einen klaren Befund: Ausgangspunkt des Vorfalls war Rassismus bzw. ein ‚Hass auf Ausländer‘ aufgrund der rechtsradikalen Orientierung der Täter.“ (S. 19)

Detungswandel im Zuge der Ermittlungen

In der Folge wandelt sich die Ermittlungsrichtung der Polizei aber dramatisch, wie auch die politische Debatte in Mügeln wie auch in Sachsen von dem eigentlichen Ausgangspunkt weglenkt und das Tatmotiv Rassismus und die rechtsextreme Motivation in Abrede gestellt wird.

Bürgermeister Gotthard Deuse (FDP) betont schon am Tag nach der Tat, dass es in Mügeln keine Rechtsextremisten gebe und wenn die Tat rechtsextrem motiviert gewesen sei, die Täter aus den Nachbarorten stammen müssten. Zu den „Ausländer raus!“-Rufen weiß er zu berichten, dass solch ein Satz jedem mal über die Lippen kommen könne. Einen Schuldigen sah Deuse in den Medien, die falsch über Mügeln berichten und somit dem guten Ruf der Stadt schaden würden. Damit setzte er auch den Rahmen für die Selbstinszenierung von Mügeln als eigentlichem Opfer der Tat wohingegen die tatsächlich Geschädigten schon zu diesem frühen Zeitpunkt aus dem Blick gerieten.

In der Folge wird die rassistische Dimension der Tat durch die sächsische Staatsregierung systematisch heruntergespielt. Dies gipfelt in der Äußerung des früheren sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt (CDU), es habe keine Hetzjagd in Mügeln, sondern lediglich auf Mügeln und die Mügelner gegeben.

Britta Schellenberg zeigt, dass sich in der Folge dieser politischen Rahmensetzung auch die Ermittlungsrichtung der Polizei änderte.

„Der Vergleich der Berichte der freiwilligen Zeugen, der Geschädigten und der im ersten Zugriff handelnden Polizisten mit den internen Berichten des polizeilichen Staatsschutzes und den öffentlichen Stellungnahmen der Polizei und Staatsanwaltschaft offenbart eklatante inhaltliche Unterschiede.“ (S. 27)

Die rassistische Tatmotivation und der rechtsextreme Hintergrund der Tat werden in der polizeilichen Ermittlungsarbeit Stück für Stück ausgeblendet, allerdings nicht aufgrund anderer neuer Erkenntnisse, sondern willkürlich wie Schellenberg zeigen kann.

„Listet man auf, was von Polizei und Staatsanwaltschaft in den Tagen nach dem Vorfall unterschlagen wurde und was hinzugefügt, so entsteht ein Bild des Geschehenen, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt.“ (S. 28)

Und die Liste der Verfehlungen der Polizei im Fall Mügeln, die Britta Schellenberg auflistet ist lang. Da ist die Rede von

  • unterlassener Zeugennachsuche;
  • Verschwinden von Tatverdächtigen aus dem Fokus der Ermittlungen;
  • Einschüchterung von Zeugen durch die Polizei;
  • Opfer-Täter-Umkehr.

Zum erstgenannten Punkt berichtet Schellenberg, dass es keine aktive Suche der Polizei nach weiteren Zeugen gegeben habe.

„Hinweise zu Tatverdächtigen und möglichen weiteren Zeugen, die von den Geschädigten, den Polizisten im Einsatz und den unmittelbaren Zeugen benannt wurden, wird nicht oder nur in ungenügender Weise nachgegangen.“ (S. 31).

Schellenbergs niederschlagendes Resümee zu den Ermittlungsarbeiten:

„Eine unwahre Rekonstruktion der Ereignisse und ‚Ermittlungsfehler‘ kennzeichnen die Ermittlungsarbeit der GEG Mügeln. Die Konstruktion zweier ethnischer Gruppen der ‚Inder‘ und der ‚Deutschen‘ führt dazu, dass die beiden Deutschen aus der ‚Gruppe der Inder‘ und die Polizisten als Opfer komplett >unter den Tisch< fallen. Die fehlende Auswertung und Ermittlung folgender Aspekte verhindert eine realitätsnahe Einschätzung des Vorfalls: Es gibt keine Auswertung der Festzeltbilder, keine Auswertung der Polizeivideos, keine Ermittlungen zur Beteiligung verschiedener rechtsextremer Gruppierungen wie der ‚Fliegerhorstbande‘, Jugendlicher aus dem Club Sornzig oder einschlägiger Fußballfangruppen. Auch fehlen Ermittlungen über den zum Altstadtfest 2007 angekündigten Neonaziüberfall auf den als nicht-rechtsradikal bekannten Mügelner Jugendclub.“ (S. 43)
Anmerkung: GEG Mügeln = Gemeinsame Einsatzgruppe.

Die politische Debatte des Falls

Auch mit Blick auf die landespolitische Debatte des Falls Mügeln kommt Britta Schellenberg hinsichtlich des verharmlosenden Verhaltens der die sächsische Landespolitik zu diesem Zeitpunkt seit siebzehn Jahren dominierenden CDU zu einem ernüchternden Fazit.

„Somit bestätigt die Sächsische Staatsregierung und die CDU nur teilweise Rechtsstaatlichkeit und die Normen des Grundgesetzes: Sie pocht auf das Gewaltmonopol des Staates und damit auf ihre eigene Macht und nutzt das Extremismus-Konzept, um unliebsame Akteure wie NPD, ‚Linksextreme‘ oder Medien als schädlich für die Demokratie im öffentlichen Diskurs zu diskreditieren. Insofern muss resümiert werden, dass die Staatsregierung und die CDU – ob bewusst oder unbewusst – auch Normen des Grundgesetzes wie Menschenrechte, Demokratie und Gewaltenteilung untergräbt. Anders als in der lokalen Politik kommt es aber nicht zu einer sichtbar wahrnehmbaren Abgrenzung von bundesdeutschen Normvorstellungen, sondern zu ihrer schleichenden Erosion.“ (S. 54).

Die Bedeutung des Extremismuskonzepts bei der Falldeutung

Sehr kritische Töne schlägt Britta Schellenberg auch gegenüber dem sächsischen Wissenschaftler und Apologten der so genannten Extremismustheorie Prof. Eckhard Jesse an, der auf einer Podiumsdiskussion kurz nach der Tat ebenfalls die politische Dimension herunterspielt und so eine pseudowissenschaftliche Legitimation für die Leugnung des rassistischen Hintergrunds liefert. Das ist insofern relevant, weil das Extremismuskonzept auch das herrschende Deutungsmuster staatlicher Stellen ist. Kurios ist auch, dass der Bericht des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz über den Beobachtungszeitraum 2007 erstmalig und einmalig in der Zeit seines Bestehens über einen „indischen Extremismus“ in Sachsen berichtet. Ein Motiv, das zuvor von der NPD in die Debatte gebracht wurde. (Zur Extremismustheorie habe ich mich ausführlicher geäußert in dem Artikel „Der Fächer des Bösen“ sowie zu den schädlichen Auswirkungen dieses Denkansatzes bei der Erfassung rassistischer Einstellungsmuster in der Mitte der Gesellschaft im Zusammenhang mit den Dresdner PEGIDA-Demonstrationen.)

Erst die juristische Aufarbeitung führt zur eindeutigen Benennung der rassistischen Hintergründe der Tat. Ein Richter spricht von pogromartigen Zuständen, die an diesem Abend in Mügeln geherrscht hätten. Allerdings gab es in den Prozessen lediglich vierzehn Angeklagte, von denen sieben rechtskräftig verurteilt wurden, was bei der Art der polizeilichen Ermittlungsführung nicht weiter verwundert.

Kommunale Folgen des rassistischen Übergriffs

Britta Schellenberg zeigt auch auf, wie die kommunale Öffentlichkeit in Mügeln sich in der Folge mit dem Fall auseinandersetzt. Es findet nicht etwa eine Auseinandersetzung über Rassismus und Rechtsextremismus statt, stattdessen werden die nichtrechten Jugendlichen in der Stadt, die den Finger in die Wunde legen kriminalisiert und als Ursache der rechten Gewalt gebrandmarkt. Daraus resultiert ein Klima, in dem sich die extreme Rechte wohlfühlt, Mügeln wird zum Brennpunkt rassistischer und rechtsmotivierter Gewalt, der Übergriff während des Stadtfestes wir also zum Auftakt einer regelrechten Serie rechter Gewalt. Auch ein Zeuge des Vorfalls wird dabei zusammengeschlagen.

Auch politisch vollzieht sich ein Rechtsruck, die NPD verfestigt sich, bei der nach dem Übergriff folgenden Bürgermeisterwahl rufen NPD und DVU zur Wahl Deuses auf. Zur Rolle Deuses kommt Britta Schellenberg zu dem Schluss:

„Es gelang weitgehend Probleme umzuettikettieren und seine Deutung in der Gemeindeöffentlichkeit durchzusetzen. In Mügeln gab es, wie ich zeigen konnte, kritische Stimmen, die zu einer Aufklärung des rassistischen und neonazistischen Vorfalls beitragen wollten. Regionalen Politiker wie Bundespolitikern und Journalisten wurden Vorurteile, fehlende Ortskenntnisse und böswillige Absichten vorgeworfen, womit ihnen die Kompetenz an dieser Debatte teilnehmen zu können prinzipiell abgesprochen wurde. Die widerspenstigen Mügelner wurden mundtot gemacht oder schlicht stigmatisiert, kriminalisiert und ausgegrenzt.“ (S. 77)

Die Veranstaltung über den Fall Mügeln

Für eine Veranstaltung in Mügeln gab es also genug Stoff, mehr als eine Abendveranstaltung tatsächlich behandeln kann. Mehrere positive Überraschungen konnte ich an diesem Abend dennoch verzeichnen. Rund 30 Besucherinnen und Besucher kamen zu dieser Veranstaltung, was für ein solches Thema im ländlichen Raum in Sachsen durchaus beachtlich ist. Statt der geplanten 90 Minuten lief die Veranstaltung rund zweieinhalb Stunden in sehr intensiver und überwiegend sachlicher Atmospähre. Nur sehr vereinzelt gab es Stimmen, die in typische Beißreflexe gegenüber den angeblich die Tatsachen verdrehenden Medien verfielen. Auch wenn der Begriff an sich nicht fiel schwebte der Terminus „Lügenpresse“, wie er derzeit auf den PEGIDA-Demonstrationen inflationär benutzt wird, mehrfach durch eine Person im Raum.

Deutlich wurde auch, dass das Thema bei den anwesenden Gästen nach wie vor nagt und eine Mischung aus Betroffenheit, Scham und der Frage wie sich künftigt solche Vorfälle vermeiden lassen vorherrschte. Interessant war jedoch auch, dass bei den Rednerinnen und Rednern, die sich als gebürtige Mügelner zu erkennen gaben, eher der Unterton vorherrschte Mügeln solle schlechtgeredet werden, während zugezogene Mügelner und Menschen aus angrenzenden Gemeinden eher auf das durchaus vorhandene problematische Klima sowohl in Mügeln aber auch in anderen Gemeinden der Region hinwiesen.

Natürlich kann ein solcher Abend nicht umfassend alle Fragen klären und alle notwendigen Diskussionsprozesse führen. Aber als ein Angebot überhaupt strukturiert einen Kommunikationsraum zu öffnen, hat der gestrige Abend seine Funktion aus meiner Sicht definitiv erfüllt.

Was bleibt?

Die Studie von Britta Schellenberg zeigt deutlich, wie ein Klima des Verharmlosens und Leugnens von Rassismus zu dessen Verfestigung beiträgt. Gerade vor dem Hintergrund, dass nach wie vor in der politischen Auseinandersetzung in Sachsen über die Bedeutung der PEGIDA-Demonstrationen von Teilen der CDU und der FDP der rassistische Charakter dieser bislang nur in Dresden erfolgreichen Aufmärsche geleugnet wird, bekommt dieser Befund Bedeutung. Denn er deutet daraufhin, dass die Anbiederung an die Demonstranten und die Verharmlosung dieser als lediglich „besorgte Bürger“ nicht zu einer Problemlösung führen wird, sondern zu einer Verfestigung und Rechtfertigung rassistischer Positionen beitragen kann, die ihrerseits als Legitimationsgrundlage für rassistisch motivierte Straf- und Gewalttaten beitragen können.

Mir sind im Laufe der gestrigen Veranstaltung ohne großes Nachdenken rund zehn weitere sächsische Städte und Gemeinden eingefallen, bei denen ähnliche Fallstudien wie die zu Mügeln sinnreich wären, um zu klären, welchen Einfluss dort jeweils politische Diskussionen auf kommunaler und Landesebene und die konkrete Arbeit von Polizei und „Verfassungsschutz“ auf die Verfestigung oder Schwächung extrem rechter Strukturen hatten. Mit weiterem Nachdenken ließe sich diese Liste mit Sicherheit ohne größere Schwierigkeiten erweitern.

Dass eine solch strukturierte Aufarbeitung tatsächlich in größerem Umfang erfolgt, steht allerdings nicht zu erwarten, wäre dies doch ein Projekt, mit dem ein sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut mehrere Jahre beschäftigt wäre.

 

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