Die Würde des Menschen ist unantastbar

ClausnitzUnter dem Eindruck der Ereignisse von Clausnitz zitierte ich gestern am späten Abend auf Facebook Artikel 1, Absatz 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Ich fügte hinzu, dass der Freistaat Sachsen dieses Schutzversprechen bereits seit längerem nicht mehr einhalte.

Auch nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen habe, halte ich diesen Eintrag nach wie vor für richtig. Clausnitz zeigt in komprimierter Form, dass Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz (Artikel 14 Absatz 1 der sächsischen Verfassung) in Sachsen derzeit nicht gewährleistet ist. Seit über einem Jahr eilt die Statistik rechtsmotivierter und rassistischer Übergriffe von einem traurigen Rekord zum nächsten. Die Zahl der Übergriffe auf Unterkünfte geflüchteter Menschen oder diese direkt ist enorm. Und Sachsen ist Zentrum dieser Gewaltwelle. Meldungen von physischen Übergriffen auf Unterkünfte und Menschen sind zur traurigen Normalität geworden.

Der Freistaat Sachsen hält sein Versprechen, die Würde des Menschen zu schützen, in mehrfacher Hinsicht nicht. Zum einen ist er nach über einem Jahr massiver rassistischer Anfeindungen gegenüber geflüchteten Menschen nach wie vor nicht in der Lage, eine sichere Anreise in die Unterkünfte zu garantieren. Und das obwohl mittlerweile bekannt ist, mit welcher massiven Aggressivität vielerorts zu rechnen ist.

Zum anderen wird dies im Fall Clausnitz durch den Polizeibeamten unmittelbar plastisch, der – statt die ankommenden geflüchteten Menschen zu schützen – auch noch gewalttätig gegenüber einem Kind wird.

In letzterem Fall hat der Freistaat eine Möglichkeit korrigierend einzugreifen, indem durch entsprechende Konsequenzen deutlich gemacht wird, dass das Handeln des eingesetzten Beamten nicht dem Anspruch des Freistaates entspricht. Dass Innenminister Markus Ulbig zunächst davon spricht, den Einsatz mit allen Beteiligten auszuwerten, bevor Konsequenzen gezogen werden können, ist verständlich. Hier geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit und selbstverständlich hat auch der eingesetzte Beamte ein Anrecht auf ein faires Verfahren. Der Innenminister steht hier allerdings in der Verantwortung, den gesamten Prozess von der Einsatzauswertung bis hin zum (Nicht-)Ziehen von Konsequenzen transparent zu machen.

Das grundsätzliche Problem ist weit schwieriger zu lösen. Natürlich ist es positiv, wenn Innenminister Markus Ulbig zu den Vorkommnissen in Clausnitz deutlich Worte findet und diese als zutiefst beschämend entfindet. Allerdings geht es mir und auch vielen anderen Menschen so, dass wir seit geraumer Zeit nicht mehr aus dem Schämen herauskommen, angesichts dessen, was derzeit in Sachsen vor sich geht. Und Scham allein reicht bei einem Innenminister nicht aus. Nach über einem Jahr der rassistischen Gewalt, erwarte ich Konzepte, die den wirksamen Schutz der Würde des Menschen garantieren. Das beginnt bei tragfähigen Einsatzkonzepten der Polizei und hört bei einer angemessenen Personalausstattung der Polizei lange nicht auf.

Clausnitz verdeutlicht, was in Sachsen seit über einem Jahr falsch läuft. Die Verniedlichung rassistischer Pogromstimmungen zu lediglich Ausdrucksformen eines „besorgten Bürgertums“ oder auch ein indifferenter Umgang mit PEGIDA und all seinen Ablegern sind Symptome dessen. Damit wird ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem solche Ereignisse wie in Clausnitz gestern von „besorgten Bürgern“ für legitim gehalten werden. Die Würde des Menschen ist unantastbar. In Sachsen gilt dies derzeit leider nicht.

Update 20.02.2016, 23:17 Uhr:

Oben stehenden Text habe ich heute gegen 14 Uhr online gestellt. Wohl wissend, dass eine Pressekonferenz des Chemnitzer Polizeipräsidenten Uwe Reißmann noch ausstand. Allerdings ging ich davon aus, dass in der Pressekonferenz zumindest angekündigt wird, dass weitergehende Ermittlungen zum Polizeieinsatz in Clausnitz stattfinden würden. Aber Sachsen wäre nicht Sachsen, wenn es auch in dieser Hinsicht nicht doch noch immer eine Steigerung der gerade vor sich gehenden Absurdität in der Hinterhand hätte.

Polizeipräsident Uwe Reißmann hat allen ernstes erklärt, für die Eskalation der Situation seien die in dem Bus sitzenden geflüchteten Menschen verantwortlich, weil sie mit Gesten provoziert hätten. So kann man natürlich auch die rassistischen Proteste und Ausschreitungen in Sachsen erklären. Indem die Opfer zu den eigentlichen Tätern erklärt werden. Das ist das gleiche Argumentationsmuster, das greift, wenn jemand erklärt, eine vergewaltigte Frau sei selbst schuld an der Vergewaltigung, wenn sie einen kurzen Rock getragen hat.

Und selbst wenn es abfällige Gesten der in dem Bus sitzenden Menschen gegeben haben sollte, würde das nicht das harte Eingreifen und die Gewalt gegenüber einem Kind rechtfertigen.

Mir war beim Schreiben des Artikels bewusst, dass er provokant ist. Insbesondere die These, der Freistaat Sachsen erfülle sein Versprechen die Würde des Menschen zu schützen derzeit nicht. Dass ich nur wenig später durch die Pressekonferenz Reißmanns so eindrucksvoll bestätigt werde, habe ich zu dem Zeitpunkt nicht geahnt.

Trotzdem gilt, was ich im Ausgangstext geschrieben habe. Innenminister Markus Ulbig hat es in der Hand zu zeigen, dass das polizeiliche Verhalten nicht dem Anspruch des Freistaats Sachsen entspricht. Polizeipräsident Uwe Reißmann hat gezeigt, dass ihm der Schutz der Würde des Menschen, der für ihn als Polizeibeamten unmittelbar handlungsleitend sein müsste, herzlich egal ist. Er ist in dem Posten nicht mehr tragfähig. Innenminister Markus Ulbig wird als Reißmanns Dienstherr diese Konsequenz ziehen müssen.

Update 21.02.2016, 00:15 Uhr:

Die Polizeidirektion Chemnitz hat eine Pressemitteilung herausgegeben mit dem Titel „Auswertung des Polizeieinsatzes im Zusammenhang mit der Erstbelegung der Asylunterkunft in Clausnitz„. Absurderweise steht die dort aufgelistete Chronologie der Ereignisse in eklatantem Widerspruch zu den Aussagen des Polizeipräsidenten Uwe Reißmann.

3 Gedanken zu „Die Würde des Menschen ist unantastbar“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.